Andrea Camilleri "Der Tanz der Möwe"

Der commissario ist inzwischen 57 Jahre alt, schläft oft unruhig und trauert immer häufiger den guten alten Zeiten nach. Was war da besser? Was ist heute schlechter als damals?

Die Welt scheint ihren Halt verloren zu haben. Unordnung und Rücksichtslosigkeit greifen um sich, ein menschliches Miteinander wird immer schwieriger. Im Leiden der sterbenden Möwe, ihrem letzten Auf­bäu­men erkennt Salvo in gewisser Weise sich selbst: als wäre er der letzte Mohikaner, der sich gegen das übermächtig werdende Böse in der Welt stemmt. Denn wiewohl er nach außen hin gern ruppig erscheint, macht es ihm seine Feinfühligkeit nicht leicht, das Alltagsgeschäft einfach so hinzunehmen und abzuar­beiten. Auf was für Spuren und Indizien er und sein Team auch treffen – Blut, Kugeln, Lügen –: Er spürt, welches Leid, welche Nöte sich oft dahinter verbergen.

Nur ist leider auch er alles andere als perfekt, insbesondere, wenn es um Lidia, die Langzeitverlobte, geht. Wieder einmal vergisst Salvo, von seiner Arbeit restlos in Beschlag genommen, dass er mit ihr eine Abma­chung getroffen hatte, und der Polizei-Tolpatsch Catarella denkt natürlich an nichts Böses, als er sie dar­über aufklärt, womit ihr Salvo gerade beschäftigt ist ...

Der Krimiplot setzt diesmal in besonderer persönlicher Nähe ein: Inspektor Fazio, Montalbanos zuverläs­sig­ster Mitarbeiter und ein wahrer Freund, scheint entführt worden zu sein. Nach und nach entfaltet sich ein Fall von Waffenschmuggel, der Fazio (und andere) in größte Gefahr bringt. Was Montalbano jedoch über die bloße Gesetzlosigkeit der Taten hinaus verzweifeln lässt, ist die mitleidlose Grausamkeit, mit der die Verbrecher ihre unmenschlichen Aktionen durchziehen, als wären sie gefühllose Automaten. Ihre Op­fer müssen einen qualvollen Weg durchleiden, ohne sich entziehen zu können – das Sterben der Möwe am Strand ist Spiegel und Symbol.

Camilleri, der alte, immer wieder junge Routinier, weiß, wie man langsam und leise, aber effektvoll Span­nung aufbaut und am Köcheln hält: die eindrucksvolle Möwenepisode gleich am Anfang als ominöse Vor­ausdeutung, ein geschickter Wechsel zwischen Verbergen, Andeuten und Aufdecken wichtiger Informatio­nen, unscheinbare Indizien in Äußerungen und Gesten ... Wie immer begleiten wir den commissario auf Augenhöhe.

Und ebenso wohlbekannt ist, wie der Autor seine Figuren nicht nur gestaltet, sondern uns ans Herz legt. Da ist die leise Ironie des Erzählers, der von menschlichen Schwächen berichtet; der verschmitzte Ton des Salvo Montalbano, wenn er mit seinen sizilianischen Mitbürgern zu tun hat; die stilistische Vielfalt ...

Am Ende hat Montalbano mit seinem Team den Fall gelöst, aber die Welt ist nicht besser geworden. Denn das Grundübel besteht noch, die Strippenzieher können weitermachen wie bisher, die Verantwortlichen schauen weg (oder gar zu), die Öffentlichkeit schert sich nicht, da sie ja ohnehin machtlos ist und alles ja immer schon so war ... Und doch bleibt ein Schimmer Hoffnung: Es lohnt sich, Anteil zu nehmen, sich auf­zu­bäu­men. (Bücherrezession.org)

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